Peter Grimes

Die folgende Rezension wurde ursprünglich im August 2016 zu einer Inszenierung von Benjamin Brittens Peter Grimes am Opernhaus Dortmund verfasst. Sie wird an dieser Stelle mit leichten Korrekturen reproduziert.

Am 9. April 2016 hatte „Peter Grimes“ am Opernhaus Dortmund Premiere. Seitdem hat die Inszenierung mehr und mehr positive Resonanz erfahren, sowohl durch Zuschauer als auch durch Kritiker. Tilmann Knabe wurde als Regisseur gelobt, Gabriel Feltz für die musikalische Leitung gewürdigt. Laut dem Opernmagazin gehört „Peter Grimes“ zum „Besten, was es in der Oper Dortmund in den letzten Jahren zu sehen gab“ (http://opernmagazin.de/premiere-von-benjamin-brittens-peter-grimes-eine-dortmunder-opernhaus-sternstunde/; zul. aufger. 04.06.16). Doch was macht die Faszination für diese Tragödie aus? Um dieses Phänomen zu verstehen liegt es nahe, zunächst einen Blick auf die Entstehung des Werkes zu werfen.

„Peter Grimes“ ist eine Oper des britischen Komponisten Benjamin Britten, die das entbehrungsreiche und tragische Leben des einsamen Fischers Peter Grimes in einem fiktiven Fischerdorf erzählt. Sie wurde im Jahre 1945 in London uraufgeführt und hatte überraschend großen Erfolg. Das Publikum nahm das Werk begeistert auf, und die Presse feierte Britten als den neuen „Orpheus Britannicus“, als den ersten großen Musikdramatiker Englands seit Henry Purcell. Bis heute gilt Britten als einer der wichtigsten Stifter einer nationalen, eigenständigen Musikdramatik in England und als einer der bedeutendsten Opernkomponisten des 20. Jahrhunderts.

Möglicherweise hängt der Erfolg dieser Oper auch mit der persönlichen Beziehung Brittens zu seinem Werk zusammen. Britten selbst hatte aufgrund seiner Homosexualität zeitlebens mit Gefühlen der Ausgrenzung zu kämpfen. Ihm war es wichtig, die soziale Dimension von Peter Grimes in den Vordergrund zu stellen, die Dualität zwischen Masse und Individuum, und erklärte 1948 zur New Yorker Erstaufführung „je bösartiger die Gesellschaft, desto bösartiger das Individuum“.

Oder wie der Hauptdarsteller Peter Pears es ausdrückte „[Peter Grimes ist] weder Held noch Opernschurke. Er ist kein Sadist und kein Dämon. Das zeigt die Musik ganz eindeutig. Er hat vieles gemein mit einem gewöhnlichen, schwachen Menschen, der mit der Gesellschaft, in der er lebt, nicht zurechtkommt.“

Der Prolog beginnt mit einem Gerichtsverfahren gegen Grimes. Nachdem sein Lehrjunge unter unklaren Umständen auf einer Bootsfahrt gestorben ist, wird Grimes unter dem Verdacht des Mordes vor Gericht gestellt. Aus Mangel an Beweisen wird er freigesprochen, aber einmal in die Welt gesetzt, bleiben die Gerüchte über einen angeblichen Kindermord im kollektiven Bewusstsein der Dorfgemeinschaft, daher rät der Richter ihm, in Zukunft keinen Lehrjungen mehr bei sich aufzunehmen. Die Einzige, die nach diesem Vorfall noch zu ihm hält, ist Ellen Orford, eine verwitwete Lehrerin, die Gefühle für den Fischer empfindet, und ein offenes Ohr für seine Ängste und Sorgen hat.

Im ersten Akt sind bereits einige Tage seit dem Prozess vergangen, doch werden die Anfeindungen der Dorfbewohner gegen Peter Grimes immer deutlicher.  Trotzdem oder gerade deswegen entschließt sich Grimes, einen neuen Lehrjungen aufzunehmen: Er sieht nur einen Ausweg, um seinen Platz in der Dorfgemeinschaft zu finden und eines Tages Ellen heiraten zu können – durch hart erarbeiteten Wohlstand. Für die Arbeit auf See beschafft er sich einen neuen Lehrjungen.

Im zweiten Akt bemerkt Ellen Blutergüsse an Grimes neuem Lehrling und beginnt, um die Sicherheit des Jungen zu fürchten. Sie stellt Peter Grimes zur Rede. Dieser drängt wie besessen darauf, mit dem Jungen wieder arbeiten zu gehen, in der Hoffnung, das Geflecht aus Vorwürfen und Misstrauen so abzuschütteln. Es kommt zu einem Streit zwischen ihm und ihr, ehe Grimes den Jungen mit sich nimmt und geht. Einige Dorfbewohner vermuten in Peter Grimes‘ Verhalten Anzeichen für das nächste Verbrechen und folgen ihm zu seiner Hütte. Als die Einwohner Peters Zuhause erreichen, drängt dieser seinen Lehrjungen, die Hütte zügig durch die Hintertür zu verlassen und in das Fischerboot zu steigen, um wieder auslaufen zu können. Dabei stürzt der Lehrjunge unglücklich von der Klippe und stirbt.

Im dritten Akt schließlich beginnt der Pöbel seinen Sturm gegen Grimes. Kapitän Balstrode und Ellen Orford raten Peter, vor dem Zorn der Meute auf die See zu fliehen, was er auch tut. So entkommt er der Justiz der Dorfgemeinschaft, muss allerdings auf See bleiben.

Die Besetzung wirkt wie für dieses Werk geboren. Dem Hauptdarsteller Peter Marsh gelingt bravourös die Leistung, der schwierigen Hauptfigur sowohl durch sein körperliches Spiel als auch durch seinen hingebungsvollen Gesang Leben einzuhauchen.

Besonders in Erinnerung bleibt dem Zuschauer auch Emily Newton, die Darstellerin von Ellen Orford, die ihre Arien mit einem hinreißenden Gefühl über den gemächlichen Klangteppich des Orchesters trägt und für den einen oder anderen Gänsehautmoment sorgt, beispielsweise in der ersten Szene des zweiten Aktes, als sie die Blessuren am Körper des Jungen entdeckt. Auch der Dialog zwischen Ellen und Peter im Prolog setzt schon sehr früh einen bemerkenswerten Moment in der Inszenierung, weil es beiden gelingt, das von Benjamin Britten gut durchdachte Duett gefühlvoll umzusetzen – sie singt in E-Dur, er in F-Moll, also mit größtmöglicher Nähe und hoher Dissonanz zugleich, ehe Ellen schließlich zu Peter durchdringt und er in ihre Tonart umschwenkt. Das Verhältnis zwischen den beiden wird hier von Peter Marsh und Emily Newton in Spiel und Gesang überzeugend vermittelt.

Aber was wäre die britische Oper ohne umfangreiche Chorpartien? Auch der Chor und der Extrachor überzeugen auf ganzer Linie durch eine hundertprozentige Präsenz und ein beeindruckendes Volumen, optisch wird dem klanglichen Reichtum der Massenszenen durch eine eindrucksvolle Detailfreude Rechnung getragen: Die modernen, teilweise schrillen Kostüme von Kostümbildnerin Eva-Mareike Uhlig, das einfallsreich ausgestaltete Bühnenbild von Annika Haller und auch das Spiel der Statisten und Chorsänger tragen das fiktive Fischerdorf 70 Jahre nach seiner Erfindung durch Benjamin Britten in unsere Zeit und verleihen ihm eine aktuelle und lebendige Atmosphäre. Solisten und Chor schaffen es sowohl schauspielerisch als auch musikalisch, die Dramatik der Handlung spürbar zu machen. Handwerklich ist dem Opernhaus Dortmund also im Rahmen seiner orchestralen und personalen Möglichkeiten eine hervorragende Umsetzung des aufwändigen Werkes gelungen, vor allem, weil hier Chancen gesehen und genutzt wurden, Brittens ursprüngliche Vorstellungen effektiv umzusetzen.

In anderen Bereichen versucht man sich hier bewusst von Britten zu lösen, um so etwas völlig Neues und Eigenes zu schaffen.

In bester Dortmunder Theater-Tradition löst man sich gerade von der Tradition, insbesondere in dramaturgischen und optischen Aspekten, sucht teilweise erkennbar Profilschärfe durch einen deutlichen Kontrast zu Brittens ursprünglichem „Peter Grimes“, seien es die freizügigen, schrill bekleideten Prostituierten vor dem Bordell oder die wahlweise betrunkenen torkelnden oder im Takt des Chorgesangs kopulierenden Freier am Hafen.

Die Motive des Werkes haben ohnehin nichts von ihrer Aktualität verloren: Das Anderssein, die Dualität zwischen Individuum und Masse und die Regeln und die Dynamik einer in sich geschlossenen Gemeinschaft sind damals wie heute wichtige Themen. Die Geschichte eines Außenseiters auf der einen Seite und eines Pöbels auf der anderen Seite, der sich durch Ressentiments in eine Hetzjagd gegen den Einzelnen steigert, kann den Menschen gerade heute noch in den Zeiten der Flüchtlingskrise und neu aufkommendem Fremdenhasses einen Spiegel vorhalten und dem Publikum die Schwächen des Menschseins aufzeigen. Doch statt sich mehr auf diesen Pol der Handlung zu konzentrieren, auf die Dynamik und Problematik einer Menschengruppe, sucht Tilmann Knabe das Thema von „Peter Grimes“ im titelgebenden Akteur und findet den Antrieb der Handlung in psychopathischen Veranlagungen von Peter Grimes. Eine mutige Interpretation, die ihre Krönung im vierten Interlude findet. Der tragische Tod des zweiten Lehrjungen, wie er in den Regieanweisungen des Librettos beschrieben wird, hat nichts mit dem blutigen Mord zu tun, der sich dem Zuschauer in dieser Interpretation zeigt. Die intensive Szene, wie Britten sie sich vorstellt hatte, wurde umgedeutet: Aus der symbolischen Einengung zwischen den zwei Türen der Hütte, die die plötzliche Akkumulation der Handlung symbolisierte, wurde ein Standbild psychopathischer Grausamkeit, denn in Knabes Szene liegt der Lehrjunge bereits ermordet in blutgetränkten Bettlaken, und aus Grimes hoffnungsvollem Zureden an seinen Lehrjungen wurde ein schizophrener Monolog, der Grimes‘ Verwirrung belegen soll. Doch nicht nur die Rezitative wurden in ein vollkommen anderes Licht gerückt, der gesamte originale Korpus von „Peter Grimes“ ist dieser Interpretation unterworfen. Die raffinierte Sprache der Musik im vierten Interlude hatte – wie so oft bei Britten – den Zweck, den Zuschauer zu manipulieren, die Szene in der Hütte wird von der immer gleichen Melodie in der Bassstimme begleitet. Zum selben basso ostinato sang der Chor in einer früheren Szene schon seine Anschuldigungen gegen Grimes. In einer subtileren Interpretation, ohne eine blutige Kinderleiche im Bett, hätte man diese Chance nutzen können, um dem Zuschauer diese Anschuldigungen wie von fern in Erinnerung zu rufen und zunächst nur vorsichtige Zweifel an Grimes‘ Unschuld zu suggerieren, ein zusätzlicher kurzer Spannungsmoment bis zum plötzlichen Unfalltod des Jungen an der Klippe. Diese Wirkung wird mit der Kinderleiche für einen sehr viel drastischeren, optischen Effekt aufgegeben. Auch erscheint Pfarrer Adams im Original als ein wohlmeinender Vertreter von Recht und Ordnung, hier erscheint er hingegen als eine Personifizierung der Korruption und Verderbtheit, denn während seine Feststellung „Ther’s no point certainly in staying here/ And will the last to go please to close the door.“ (II, 2) auf dem Papier des Librettos der Hinweis zu einem retardierenden Moment hätte sein können, kann er an einem Tatort nur noch als Symbol der Feigheit und des Wegschauens verstanden werden.

„Peter Grimes“ wurde von dem Opernhaus Dortmund als ein Stück angekündigt, das Pädophilie und Mord thematisiert und das Unrecht, das durch die Untätigkeit und die Ignoranz anderer,  vermeintlich Unbeteiligter zustande kommt. Inwieweit dieses Bild sich mit den Facetten des Werkes verträgt, liegt im Auge des Betrachters, aber einiges spricht dagegen: Das aggressive Auftreten der gewaltbereiten Dorfgemeinschaft im Prolog, der bedrohliche Fackelaufmarsch des Chors in Szene 1 des dritten Aktes deuten ein enormes Konfliktpotential auf Seiten dieses zweiten Akteurs, des Pöbels an, Vorausdeutungen, die hier zwar in aller Radikalität dargestellt werden, wie um ein Unrecht gegen Peter Grimes anzukündigen, die aber für Knabes düstere Interpretation der Figur Peter Grimes fallen gelassen werden. Wo Benjamin Britten dem Rezipienten Raum für Interpretationen gelassen hat, wirft das Opernhaus Dortmund mit voller Überzeugung ein zerfleischtes Kind in das Bild, wo Britten lieber den Schleier der Ungewissheit über den Hintergründen der Handlung liegen lässt, setzt Knabe eine krasse Aussage. Die Figur des Peter Grimes wird dadurch nicht unbedingt verständlicher. Man hat anfangs noch Mitleid mit dieser armen Fischerseele, die im Prolog im Kontrast zu den wütenden Einwohnern noch so rational erscheint, den Unfalltod des ersten Lehrjunges nach bestem Wissen und Gewissen bezeugt und kurz darauf im Dialog mit Ellen so viel Menschliches sagt, eine der wenigen Figuren, die der Zuschauer nicht nur in einer Funktion der Dorfgemeinschaft kennenlernt – anders als Bürgermeister Swallow etwa, Pastor Adams, Apotheker Keene oder Fuhrmann Hobson – sondern als Persönlichkeit. Aber diese Inszenierung nutzt jede Möglichkeit zwischen Brittens Noten, um Grimes diffuser werden zu lassen. Am Ende der Oper soll das Bild eines Psychopathen stehen, aber so ganz überzeugt das nicht, dafür gibt es zu viele andere Schwerpunkte im Werk, ist die moralische Verkommenheit und die Ungerechtigkeit in der Dorfgemeinschaft zu groß, als dass der Zuschauer noch mit irgendjemandem mitfühlen will oder kann. Im Prolog, in dem Grimes mit Ellen Orford über seine Ängste, seine Gefühle und Gedanken redet, wird deutlich, dass Grimes zwar ein Außenseiter ist, aber ein Außenseiter, der sensibel genug ist, dies als Mangel wahrzunehmen, und der unter der ungerechten Behandlung durch seine Mitmenschen leidet, sich schließlich ganz in seine Arbeit als Fischer kniet und Anerkennung durch finanziellen Erfolg zu verdienen sucht. Seine Dialoge enthalten nicht einen Hinweis auf das psychopathische Problem und verlieren durch die spätere Entmenschlichung von Peter Grimes an dramaturgischer Bedeutung. Ist Peter Grimes ein geistig kranker Mensch? Nach dieser Interpretation schon. Der Fackeln schwenkende Pöbel? Der einzige Streiter für Gerechtigkeit. Peters Rückzug auf das Meer? Flucht vor dem gerechten Volkszorn. Und die Chorpartie am Ende des dritten Aktes, in der das Leben ohne Grimes so weitergeht wie bisher und der ewige Fortgang der Gezeiten besungen wird, soll nun laut Regie nicht etwa den endgültigen Ausschluss von Peter Grimes aus der Gemeinschaft symbolisieren, sondern die Rückkehr der Einwohner in ihr alltägliches Leben und das Verdrängen von Peter Grimes Verbrechen, soll ein Beweis für die fehlende Solidarität und Integrität der Einwohner werden und ein Appell an das Publikum, bei geschehenem Unrecht hinzuschauen und zu handeln. Eine interessante Umdeutung. Die Aufbereitung als Psychogramm eines verwirrten Sonderlings ist interessant und lässt sich auch sicherlich auch aus der Vorlage herauslesen, aber sie verliert Brittens ursprüngliche Intention aus den Augen, die tragische Handlung nicht durch das Wesen eines einzelnen Mannes zu erklären, sondern durch die Dialektik von Masse und Individuum. Natürlich ist Peter Grimes eine ambivalente Figur, ein Täter und ein Opfer gleichermaßen. Aber hier liegt der Fokus völlig auf seiner Rolle als Täter, Peter wird zu einem Opfer als selbstverschuldete Konsequenz seines eigenen Handelns. Am Ende bleibt Peter Grimes einsam und alleine und von den Logen über dem Publikum singt der Chor, bevor auch der zuletzt verstummt. Wenigstens in der Musik hat die Dorfgemeinschaft noch das letzte Wort.